Ich hatte gehofft, wenn sich die schwere Glocke des Stillstands, die sich über die Welt gesenkt hatte, wieder hebt, werden wir eine Erkenntnis mitnehmen. Den Willen zur Veränderung, den Wunsch, uns und unserem Planeten endlich ein Lächeln zu schenken.
Wir uns auf kluge Weise neu erzählen werden.
Das hatte ich gehofft. Nach zwei Jahren im Vakuum, stummer Orientierungslosigkeit, des in Jogginghose-vor-sich-hin-Dämmerns.
Stattdessen herrscht Krieg. Und es fallen gewaltige Worte.
Ruhm. Sieg. Ehre.
Sie sind blutrünstig. Sie sind gewalttätig. Sie haben eine grausige Geschichte.
Sie fallen laut.
Der Mut. Der Feind. Der Held. Die Helden.
Unversöhnlich wie Bomben.
Mich packt das Entsetzen.
Die Jogginghosen wurden gegen Kampfanzüge getauscht. Die Welt ist wieder in Aktion. Statt einer unsichtbaren Krankheit gibt es echte Gegner. Menschen aus Fleisch und Blut.
Und das erste, was stirbt, ist die Wahrheit.
Es gibt Führer, Anführer, Führung.
Schwere Waffen, leichte Waffen, werden durch die Welt gekarrt, für die Zukunft der Kinder.
Mich packt die Wut.
Es wird getötet, gerächt, gemeuchelt, verachtet, missachtet, gefoltert, vergewaltigt.
Zerstört. Bis kein Stein mehr auf dem anderen steht.
Rheinmetall reibt sich die Hände.
Es gibt auch Gut und Böse, endlich ist alles eindeutig. Wie im Märchen. Das ist wichtig, das heilt die Seelen. Dafür sind Märchen da. Ein Krieg aber bringt Zerstörung. Er kann nicht heilen. Er ist kein Märchen.
Und um ehrlich zu sein, bin ich mir, was die Heilsamkeit von Märchen angeht, auch nicht immer so sicher. Als ich Lou das Märchen von Hänsel und Gretel vorlas, und es zu der Stelle kam, an der die Hexe in den Ofen gestoßen wird, schrie Lou fassungslos auf: „Aber warum, Mama?!“ Hexe hin oder her, einen Menschen verbrennen, das geht nicht. Sie wollte nie wieder was mit diesem Märchen zu tun haben.
Ich habe Hänsel und Gretel auch nie gemocht.
Während der Pandemie hatte ich gehofft, es würde die Einsicht und das Verstehen geben, dass wir alle miteinander zusammenhängen. Miteinander. Nicht gegeneinander.
Wir diese Geschichte universell erzählen werden.
Unser Pandemiegeschenk, sozusagen.
Das ist natürlich eine Utopie. Eine, die verspottet und verhöhnt wird.
Stattdessen die alte Story.
Gute Tote, schlechte Tote.
Gute Soldaten, böse Soldaten.
Gute Flüchtlinge, schlechte Flüchtlinge.
Als die ersten Kriegsnachrichten durch die Medien rasten, sagte meine Tante Ava erschüttert:„ Ich kann diese schrecklichen Bilder nicht sehen. Die armen Menschen.“
Sie machte eine kurze verstörte Pause und sagte dann: „ Aber ein Gutes hat das Ganze. Jetzt müssen wir nichts mehr über Corona hören.“
Damit war die Pandemie samt eventueller Erkenntnis beendet.
Gestern suchte ich einen Text für den Abschlusskurs. Dabei stieß ich auf Theodor Lessings ‘Irrende Helden’.
…. Seht Ihr denn nicht, dass unsere Kriege, ja dass schon der Wehr-und Soldatenstand uns mit Sicherheit in die Selbstvernichtung treibt? Hat denn unsere Mordtechnik ( wir werden nächstens wohl auch das Atom spalten lernen ) noch irgend etwas zu tun mit Adel und Würde der Mannheit? Wer die Waffen hat, wird Sieger, wer das Geld hat, wird Sieger. Wer töten und sterben kann, ist unbezwinglich. Gewalt aber wird nur immer neue Gewalt mobil machen. So werden wir uns alle abschlachten. …. Einst werden alle fühlen, dass Schicksal, Nation, Blut und Vaterland, dass die nationalen wie die religiösen Tiefen der Menschheit nur dann zu retten und zu wahren sind, wenn der Mensch auf die Willkür der Gewalt verzichtend, ruhig der internationalen Diktatur des Geistes vertraut, die auf den Höhen der Menschenwelt das Selbe ist, was wir in Blut und Natur – Liebe nennen. ( 1930 )
1933 wurde Lessing von den Nationalsozialisten in Marienbad ermordet.
Sein Text hat überlebt.
Liebe Lala
Was für ein großes Geschenk… deine Text
excellent…
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