Foggy brain …

Dieses Jahr habe ich ungewöhnlich viele Neujahrsgrüße verschickt. Ich fand, die düstere Lage der Welt erfordere es, so vielen Freunden und Bekannten wie nur möglich Glück und Zuversicht für das neue Jahr zu wünschen. Ich bekam ungewöhnlich wenige Antworten. Kein: Danke, das wünsche ich dir auch! Oder: Herzlichen Dank für Ihre Wünsche! und so weiter und so fort. Ausgenommen natürlich die engsten Freunde. Um genauer zu sein: Die allerallerengsten Freunde. Eine Handvoll Menschen also. Selbst die WhatsApp Gruppen meiner Sprachkurse, die normalerweise unter einer Fülle von Emojis, Gifs, guten Wünschen, Photos und Videosequenzen heißlaufen, selbst da: Schweigen. Ich habe beschlossen, die Angelegenheit nicht persönlich zu nehmen, und frage mich stattdessen: Was ist los? Kein Lust zu nix mehr? Schnauze voll? Pudding im Kopf? Lähmung? Überdruss? Rückzug unter die Bettdecke? Auch ich hatte mich darauf gefreut, endlich die Sprachbücher in meine neue Tasche, also diese safranfarbene Tasche, die ich vor zwei Jahren in Paris gekauft habe und seither nicht benutzen konnte, meine Sprachbücher in eben diese Tasche zu packen, einen Rock (!) und Stiefel (!) anzuziehen und zur Arbeit zu gehen. Stattdessen sitze ich wieder in Jogginghose und Wollsocken an meinem Platz am Fenster. Die neue Tasche steht in der Ecke. Das Murmeltier grüßt. Außerdem hatten Lou und ich über Neujahr eigentlich meine Schwester in Paris besuchen wollen. Aber bevor wir überhaupt in die Gelegenheit kommen konnten, uns in einem der krachvollen Züge der Gefahr auszusetzen, uns möglicherweise bei einer nachlässig getragenen Maske anzustecken, lag ich schon mit irgendeiner Halsschmerzvariante im Bett. Dabei hatte ich mich dagegen immun gewähnt. Schließlich habe ich das schwarz auf gelb. Das war gemein. Obwohl ich Lou sagte, sie könne sich jetzt nicht anstecken, da sie doch grade krank gewesen sei, türmte sie panisch zu ihrer Freundin Xenia. Und ich googelte die Symptome. Ich stieß auf den Begriff Brain Fog. Ein tolles Wort. Es beschrieb nicht nur meine elende Verfassung, diesen Pudding im Kopf. Sondern den Zustand der Welt. Heute morgen fiel es mir wieder ein. Es war fünf vor zehn und ich hatte mich gerade mit einer Kanne Tee an meinem Platz am Fenster eingerichtet, um das ZOOM Meeting für den A2 Kurs zu eröffnen, überflog noch schnell meine e-mails. Eine Antwort von Tante Eugenia aus Amerika auf meine Neujahrswünsche, ich hatte ihr ein paar Photos von Lou und mir geschickt. Wo sind all die Jahre geblieben, schrieb sie zu Tränen gerührt. Und: Ach, wann werden wir uns wiederzusehen? Wann können wir endlich wieder ohne Angst leben? Das war der Moment von brain fog, foggy brain, dem nebligen Kopf. Die Angst macht alle kirre. Die Unsicherheit. Wir denken nicht mehr klar. Es ist, als würden wir in einem riesigen leeren Raum treiben. Ohne Kopf. Ohne Gestern. Ohne Morgen. 

Nach dem Unterricht musste ich zur Post, auf dem Rückweg trank ich einen schnellen Kaffee. Draußen und im Stehen. Hinter mir nieste ein Mann. Augenblicklich zuckten alle an den Tischen stehenden Kaffeegenießenden zusammen, warfen dem Mann scharfe Blicke zu.„Wir sind alle verrückt geworden“, kommentierte das die Frau, die mir gegenüber am Tisch stand. „Angst vor Krankheit habe ich keine, aber die Leute machen mir Angst. Ihre zunehmende Aggressivität ist kaum noch auszuhalten. Die Menschen gucken sich nicht mehr an, lächeln nicht mehr. Sie sind brutal und boshaft geworden. Eben komme ich vom Friedhof. Da wurde ein 39 jähriger Mann beerdigt. Wieso nutzen wir unsere Zeit nicht? Sind freundlich zueinander, lachen. Essen gut. Und teilen das Essen miteinander.“ Verzagt sah sie mich an, lächelte verzweifelt. Wischte sich mit dem Handrücken einen Kekskrümel von den hellrot bemalten Lippen. Eine seltsame Geste, als würde sie weinen. Dann nahm sie ihr Handtaschenetui vom Tisch, sagte, “Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag“, und ging. Ich nippte an meinem inzwischen kalten Kaffee, blickte auf die nebelgraue Straße. Foggy brain.

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