Das Geschenk …

Ich hatte gehofft, wenn sich die schwere Glocke des Stillstands, die sich über die Welt gesenkt hatte, wieder hebt, werden wir eine Erkenntnis mitnehmen. Den Willen zur Veränderung, den Wunsch, uns und unserem Planeten endlich ein Lächeln zu schenken.
Wir uns auf kluge Weise neu erzählen werden.
Das hatte ich gehofft. Nach zwei Jahren im Vakuum, stummer Orientierungslosigkeit, des in Jogginghose-vor-sich-hin-Dämmerns.

Stattdessen herrscht Krieg. Und es fallen gewaltige Worte.
Ruhm. Sieg. Ehre.
Sie sind blutrünstig. Sie sind gewalttätig. Sie haben eine grausige Geschichte.
Sie fallen laut.
Der Mut. Der Feind. Der Held. Die Helden.
Unversöhnlich wie Bomben.
Mich packt das Entsetzen.
Die Jogginghosen wurden gegen Kampfanzüge getauscht. Die Welt ist wieder in Aktion. Statt einer unsichtbaren Krankheit gibt es echte Gegner. Menschen aus Fleisch und Blut.
Und das erste, was stirbt, ist die Wahrheit.

Es gibt Führer, Anführer, Führung.
Schwere Waffen, leichte Waffen, werden durch die Welt gekarrt, für die Zukunft der Kinder.
Mich packt die Wut.
Es wird getötet, gerächt, gemeuchelt, verachtet, missachtet, gefoltert, vergewaltigt.
Zerstört. Bis kein Stein mehr auf dem anderen steht.
Rheinmetall reibt sich die Hände.

Es gibt auch Gut und Böse, endlich ist alles eindeutig. Wie im Märchen. Das ist wichtig, das heilt die Seelen. Dafür sind Märchen da. Ein Krieg aber bringt Zerstörung. Er kann nicht heilen. Er ist kein Märchen.
Und um ehrlich zu sein, bin ich mir, was die Heilsamkeit von Märchen angeht, auch nicht immer so sicher. Als ich Lou das Märchen von Hänsel und Gretel vorlas, und es zu der Stelle kam, an der die Hexe in den Ofen gestoßen wird, schrie Lou fassungslos auf: „Aber warum, Mama?!“ Hexe hin oder her, einen Menschen verbrennen, das geht nicht. Sie wollte nie wieder was mit diesem Märchen zu tun haben.
Ich habe Hänsel und Gretel auch nie gemocht.

Während der Pandemie hatte ich gehofft, es würde die Einsicht und das Verstehen geben, dass wir alle miteinander zusammenhängen. Miteinander. Nicht gegeneinander.
Wir diese Geschichte universell erzählen werden.
Unser Pandemiegeschenk, sozusagen.
Das ist natürlich eine Utopie. Eine, die verspottet und verhöhnt wird.
Stattdessen die alte Story.
Gute Tote, schlechte Tote.
Gute Soldaten, böse Soldaten.
Gute Flüchtlinge, schlechte Flüchtlinge.

Als die ersten Kriegsnachrichten durch die Medien rasten, sagte meine Tante Ava erschüttert:„ Ich kann diese schrecklichen Bilder nicht sehen. Die armen Menschen.“
Sie machte eine kurze verstörte Pause und sagte dann: „ Aber ein Gutes hat das Ganze. Jetzt müssen wir nichts mehr über Corona hören.“

Damit war die Pandemie samt eventueller Erkenntnis beendet.

Gestern suchte ich einen Text für den Abschlusskurs. Dabei stieß ich auf Theodor Lessings ‘Irrende Helden’.
…. Seht Ihr denn nicht, dass unsere Kriege, ja dass schon der Wehr-und Soldatenstand uns mit Sicherheit in die Selbstvernichtung treibt? Hat denn unsere Mordtechnik ( wir werden nächstens wohl auch das Atom spalten lernen ) noch irgend etwas zu tun mit Adel und Würde der Mannheit? Wer die Waffen hat, wird Sieger, wer das Geld hat, wird Sieger. Wer töten und sterben kann, ist unbezwinglich. Gewalt aber wird nur immer neue Gewalt mobil machen. So werden wir uns alle abschlachten. …. Einst werden alle fühlen, dass Schicksal, Nation, Blut und Vaterland, dass die nationalen wie die religiösen Tiefen der Menschheit nur dann zu retten und zu wahren sind, wenn der Mensch auf die Willkür der Gewalt verzichtend, ruhig der internationalen Diktatur des Geistes vertraut, die auf den Höhen der Menschenwelt das Selbe ist, was wir in Blut und Natur – Liebe nennen. ( 1930 )

1933 wurde Lessing von den Nationalsozialisten in Marienbad ermordet.
Sein Text hat überlebt.

Apfelkerne …

Neuerdings werde ich gefragt: Was bedeutet Einberufung? Mobilmachung? Rüstungsindustrie? Verteidigungsfall? Was heisst hero auf Deutsch? Weapons? Was ist ein Stellungskrieg? Ostflanke? Was bedeutet Eingreiftruppe? Aufrüstung?
Ich erkläre, erläutere. So gut ich kann. Die neuen Vokabeln werden notiert. Die neuen Vokabeln sind auch für mich neu. Sie benutzen zu müssen wie eine Alltäglichkeit. Das ist neu. Das ist unfassbar.
Mir widerstrebt es, eine Spinne mit der Fliegenklatsche zu erschlagen, stattdessen bugsiere ich sie behutsam auf ein Blatt Papier, öffne das Fenster und schüttle das Insekt in die Freiheit.
Jetzt vermittle ich im Unterricht Kriegsjargon. Das ist unfassbar.

Simas aus dem Abschlusskurs sagt: „In Litauen gibt es drei Gruppen von Menschen. Manche haben Angst und sind schon weg. Andere bereiten sich darauf vor, das Land zu verlassen. Während die Leute aus der dritten Gruppe nicht an eine russische Invasion glauben und unverändert ihr Leben leben. Mein Bruder wohnt nur zwanzig Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt, er hat sein Auto schon gepackt. Für sich, seine Frau und seine zweijährige Tochter. Meine Eltern sagen, sie waren nach dem Zerfall der Sowjetunion friedlich. Und sie werden es wieder sein. Gewalt bringt nichts als Gewalt.“
Die anderen nicken zustimmend in den Zoom-Kacheln. Sie kommen aus Peru, den Philippinen, aus Russland, Litauen, Spanien und Kirgistan.
Ich freue mich, dass sie nicken.
Sie fragen nach Texten zur Ukraine. Sie wollen über den Krieg sprechen. Gleichzeitig wollen sie nicht über den Krieg sprechen. Sie sehen mich hilflos an.
„Gestern dachte ich, wozu weiterschreiben? Wozu eine Doktorarbeit? Vielleicht gibt es uns bald nicht mehr“, sagt Rafael. Er lacht fassungslos.
„Habt ihr gesehen, wie die Aktien der Rüstungskonzerne in die Höhe schießen?“, fragt Simas.
„Ich habe Angst“, sagt Manuela.

In einer renommierten Zeitung lese ich die fett gedruckte Überschrift: ‚Waffen sind besser als nur Worte‘

Ich kann die Gewaltspirale nicht zurückdrehen.

Aber ich kann Texte und Zeitungsartikel besorgen, und den Krieg aus verschiedensten Blickwinkeln beleuchten. Wir können diskutieren. Wir können über Desertation als Menschenrecht sprechen.
Ich kann ein Rezept für Kartoffelsuppe mitbringen. Wir können uns austauschen. Wir können über Zitronenkuchen, eingelegte Gurken, über marinierten Fisch und Kokoshuhn sprechen.

Meine alte Nachbarin fängt mich jeden Morgen unten im Hausflur ab.
„Gibt es Krieg? Was denken Sie, Frau Mandel?“
Dann sprudelt es nur so aus ihr raus. Sie spricht von jüdischen Klassenkameradinnen, die auf einem Lastwagen abtransportiert wurden, von einer brennenden Synagoge, von Fliegeralarm, davon, wie sie für ihren kleinen Bruder Milch besorgen sollte und sich in einen Straßengraben warf, von der Katze, die es mal zu Mittag gab, weil es sonst nichts gab, von verdunkelten Räumen. Sie weint. Sie ist aufgeregt.
Ich versuche, sie zu beruhigen. Jeden Morgen, wenn ich vom Joggen komme, stürzen dieselben Bilder über uns ein.
Soll ich der alten Frau sagen, dass auch ich nachts nicht schlafen kann? Weil ich mit klopfendem Herzen an diese beschissene Welt denke, in der meine Tochter aufwächst?

Morgen habe ich wieder den Abschlusskurs.
„Können wir das nächste Mal wieder über Essen sprechen?“, wurde ich nach der letzten Stunde gefragt.
„Ich möchte über Liebe sprechen“, sagte Olga.
Alle sahen sie an. Nickten.
Sahen mich an.
„Klar, sehr gern“, sagte ich, „ich guck mal, was ich finde.“

Ich schlage die Liebesgedichte von Brecht auf:
Der, den ich liebe, hat mir gesagt, daß er mich braucht. Darum gebe ich auf mich acht, sehe auf meinen Weg und fürchte von jedem Regentropfen, daß er mich erschlagen könnte.

Ich kann den Kriegstaumel nicht stoppen.
Diesen Wahnsinn.

Aber ich kann Apfelkerne in einen Blumentopf stecken, fest in die Erde, und ihn auf die Fensterbank in der Küche stellen. Ins Frühlingslicht.

Home, sweet home …

Nachdem ich 10 Minuten im leeren Raum gewartet hatte, allein, an meinem Platz am Fenster, klingelte mein Handy. Cara war dran. Flattrig, in sich überstürzendem Englisch legte sie los: „Es tut mir so leid sorry Verzeihung wirklich aber ich habe kein Internet wir können heute keinen Unterricht machen es tut mir leid wirklich ich muss mich wirklich entschuldigen ich versuche wieder und wieder mit Vodafone zu sprechen seit zwei Tagen ich muss ins Büro zum Glück haben wir da eine Teststation ich kann ja nicht Zuhause arbeiten ohne Netz ich habe einen Kollegen gebeten für mich bei der Telefongesellschaft anzurufen so oft habe ich schon selbst angerufen und erklärt was los ist aber immer sagen sie daran liegt es nicht es ist zum verrückt werden ich kann nicht ausdrücken was ich will sie verstehen mich nicht weil ich kein richtiges Deutsch spreche und bei Englisch stellen sie sich taub es hat alles keinen Sinn ich gebe auf ich werde meinen Job kündigen die Wohnung kündigen und zurück nach Italien gehen es hat keinen Sinn ich kann nicht mehr.“
Pause.
Ein mit Mühe unterdrückter Schluchzer schwappte durchs Telefon.
Ich blickte in den gähnenden Zoom-Warteraum, in dem ich allein an meinem Platz am Fenster saß, ein Handy am Ohr. Vor mir das geöffnete Sprachbuch, Seite 33, ein Zeitungsartikel über Currywurst.
Cara ist erfolgreiche Finanzanalystin sowie Personalchefin eines namhaften Tomatenmarkkonzerns. Sie hat auf verschiedenen Kontinenten gelebt und gearbeitet, Pferde vor Apotheken kotzen sehen und zig Krisen gemeistert. Cara ist selbstbewußte Ende fünfzig, lacht ein raumfüllendes Lachen und hat eine unerschütterliche Lebensfreude.
Also, hatte eine unerschütterliche Lebensfreude.
Nach zwei Jahren home, sweet home, ist davon nicht mehr viel übrig. Aus dem schillernden Pfau ist ein gerupftes Huhn geworden.
Das begann völlig unspektakulär.
Cara fing an, sich für Verordnungen zu interessieren. Das passierte fein, fast unmerklich. Schließlich interessiert man sich. Aber mit der Zeit wurde aus dem harmlosen Interesse sowas wie Besessenheit. Eine Manie.
Cara studierte jetzt eifrig jede neue Verhaltensvorschrift, arbeitete sich kleinkariert und mit Hilfe verschiedenster Übersetzungsprogramme durch Zeitungsartikel, studierte rastlos die Meldungen des Auswärtigen Amtes, verfolgte LiveBlogs und kämpfte sich aufs Genaueste durch jeglichen Hinweis der Bundesregierung.
Sie befolgte jede Regel. Unbeugsam und gewissenhaft.
Das Haus verließ sie nur noch für ihre frühmorgendlichen Spaziergänge durch den Park, früh um fünf, wenn die Stadt sicher weggeschlossen schlief, und den wöchentlichen Deutschunterricht nutzte sie, um auf Englisch über Inzidenzen und veränderte Bestimmungen zu sprechen.
Mit dem Lernen ging es also nur nur noch schleppend voran. Die Stunden waren zäh wie Klebstoff. Und Cara verließ das wöchentliche Meeting jedesmal sichtbar erfrischt. Dankbar und gestärkt.
Als es endlich einen Impfstoff gab, stellte sie sich vorbildlich hinten an, wartete geduldig auf einen Termin, diszipliniert wie eine Soldatin, bis alle unter Dreißigjährigen geimpft waren. Und mir der Geduldsfaden riss. Ich schlug vor, dass sie jetzt umgehend in ihre Hausarztpraxis geht. Rief sogar für sie da an.
Schon zum nächsten Unterricht reckte Cara mir ihren entblößten Oberarm in die Kamera, zeigte triumphierend auf ein kleines, stolzes Pflaster.
Inzwischen hat sie die dritte Impfung hinter sich.
Trotzdem ist die Welt kein freundlicherer Ort geworden.
Cara schüttet mir jeden Freitag ihr Herz aus. Da kommt dann alles zur Sprache, was sich während ihrer Woche so aufgestaut hat. Das ist mittlerweile festes Ritual.
Aber diesmal schien sie nur noch an einem seidenen Faden zu hängen.
„Cara?“
Das unterdrückte Schluchzen stieg unaufhaltsam höher, bahnte sich seinen Weg zu meinem Platz am Fenster und krachte wie eine schwere Flutwelle in mein Ohr.
„Ich kann nicht mehr seit zwei Jahren sitze ich Zuhause ich bin ein Mensch ich brauche andere Menschen ich brauche Berührungen ich bin ein Mensch ich brauche Wärme ich habe mich zwei Jahre an alles gehalten jede Regel habe ich befolgt jede einzelne Regel ich habe mich immer vorbildlich verhalten aber jetzt will ich nicht mehr ich bin ein Mensch ich brauche andere Menschen ich habe alles satt ich kann kein Deutsch weil ich seit 2 Jahren allein Zuhause sitze ich gehe nicht mal kurz ins Restaurant sondern bestelle jeden Tag am Telefon ich ich war immer optimistisch die ganze Zeit aber jetzt nicht mehr ich ertrage das alles nicht mehr das Leben ist sinnlos ich will nicht mehr ich gebe auf ich will nicht mehr leben.“
Pause.
Zwei Tage ohne Internet reichen also inzwischen, um einen Totalzusammenbruch auszulösen.
Cara heulte, verloren wie ein Kind im dunklen Zimmer.
Ich hörte zu. Versuchte, der Angelegenheit irgendwas Positives abzuringen. Schickte aufmunternde Worten durchs Telefon. Nach 45 Minuten stieß Cara einen hellen Schnipsel ihres raumfüllenden Lachens aus. Legte dankbar und gestärkt auf.
Ich starrte noch ein bisschen in den leeren Warteraum, in dem ich ganz allein an meinem Platz am Fenster zu sehen war. Dann beendete ich das Meeting.

Leitsystem …

Am Sonntag radelte ich mit dem Fahrrad durch die Stadt. Der Nachmittag war bleigrau und es nieselte kalt, das störte mich nicht. Ich brauchte frische Luft und wollte mich bewegen. Einfach so, ohne Uhr und ohne Ziel. Als es dämmerte, inzwischen war ich ziemlich durchgefroren, machte ich mich wieder auf den Weg Nachhause. Aber kaum war ich in die blattlosen Grünanlagen abgebogen, hatte ich plötzlich riesige Lust, ins Kino zu gehen. Ich drehte um. Schließlich war ich seit bald zwei Jahren in keiner Kinovorstellung mehr gewesen. Aufgeregt trat ich in die Pedale. Kettete mein Fahrrad am Geländer des gegenüber des Kinos liegenden U-Bahnaufgangs an, wandte mich um, ging zielstrebig, als hätte es niemals einen Filmriss von mehreren Monaten gegeben, zum gläsernen Eingangsbereich des Lichtspielhauses. Und stand vor verschlossener Tür. Ein Schild zeigte mir: Hier nicht. Hier ist der Ausgang. Der Eingang, Pfeil nach links, ist weiter links. Das war neu. Ich ging also nach links, dahin, wo bisher der Eingang zu der über den Kinosälen liegenden Tanzschule gewesen war, drückte die Tür auf und trat ein. Eine Dunstschwade frischen Popcorns schlug mir entgegen. Augenblicklich berührten mich all die glücklichen Stunden, in denen ich, dichtgedrängt, im Dunkeln und auf Ellbogenfühlung mit fremden Menschen, genüßlich in einem durchgesessenen Kinosessel hing und mich, weit weg von dieser Welt, in andere Dimensionen entführen ließ. Gierig saugte ich die Popcornluft ein. Augenblicklich fühlte ich mich zufrieden und geborgen und folgte beflügelt den akkurat auf die Treppenstufen geklebten roten Pfeilen auf dem Weg nach oben, ins weitläufige Foyer. Auf halber Treppe musste ich stehenbleiben. Eine Menschenschlange wartete artig aufgereiht, um oben am Treppenabsatz kontrolliert zu werden. Die Schlange rückte nur schleppend voran, ich hatte also genügend Zeit, die für einen Kinobesuch erforderlichen Nachweise rauszukramen. Hielt alles parat, wartete. Versuchte schon mal, einen neugierigen Blick auf die Filmankündigungen zu werfen. Da aber nur zwei Schalter geöffnet waren, und vor die nicht besetzten Schalter ein schwerer Vorhang gezogen worden war, konnte ich so gut wie nichts sehen. Meine Ungeduld stieg. Endlich war ich an der Reihe. Ich zeigte sämtliche Nachweise samt Ausweis vor, wurde eingescannt, und schritt erwartungsvoll über den weichen Teppich Richtung Kasse. Stellte mich erneut an. Seltsamerweise hatte ich den Eindruck, nicht in der Warteschlange eines Kinos zu stehen, sondern im Check- In -Bereich einer Billig Airline. Das musste an den schwarzen Absperrbändern liegen, diesem sogenannte Personenleitsystem. Wir hielten diszipliniert Abstand, einen Koffer hatte niemand. Kühle gesäuberte Luft zog durch die Abstandslücken. Vom Popocorndunst gab es nur noch eine Ahnung, und es war so still, als wäre der Ferienflieger eben gerade abgestürzt. Ich dachte an die Zeit, in der ich mit der Nase an einen vor mir wartenden Teddymantel oder eine bauschig gepolsterte Jacke gepresst wurde, dass es mir den Atem nahm, schweissnaß unter meinem dicken Wintermantel und klebende Fussel eines fremden Schals auf den Lippen, während von hinten erbarmungslos nachgeschoben wurde. Ein schwitziges, pulsierendes Gedränge, das sich lautstark unterhaltend Richtung Kasse schob. Nichts mehr davon. Schweigende Vögel, schwarz und weiß. Ordner bewachten unser Warten. Wir rückten lautlos vor. Jetzt konnte ich endlich die Ankündigungen auf den hängenden Screens lesen. Horror, Thriller, Fantasy. Und um acht: Ein Prinzessinnendrama. Die Uhr im Foyer zeigte Viertel vor sechs, also noch gut zwei Stunden bis es losging. Trotzdem wollte ich den Prinzessinnenfilm sehen, ich holte schon mal mein Portemonnaie raus. Die Schlange bewegte sich stumm, ich rückte weiter. Entwickelte Szenarien, wägte ab: Draußen ist es nass und stockdunkel. In den umliegenden Cafés und Restaurants regiert kühle Distanz. In der Abfertigungshalle will ich nicht sitzen. Also doch zwei Stunden draußen im Nieselregen rumlaufen? Oder Nachhause radeln und kurz vor Beginn des Films zurückkommen? Ratlos scherte ich aus der Schlange aus, stellte mich unter den wachsamen Blicken der Ordner an den Rand des Absperrbandes. Früher hätte ich mich sorglos ins überfüllte Café gegenüber gesetzt, irgendwo an einen Tisch mit drangesetzt, ein Glas Wein bestellt und mir mit Zeitungslesen oder Gesprächen die Zeit vertrieben. Jetzt nicht. Schon die Vorstellung, isoliert in einem kühl gelüfteten Café zu sitzen, der Gedanke an weitere und wiederholte Einlasskontrollen, erzeugte Widerwillen in mir. Die Kinolust war verflogen. Enttäuscht duckte ich mich unter das Absperrband hindurch, ich wollte zurück zur Treppe, zum Ausgang. Doch das Leitsystem trennte den Zuschauerstrom, es war unmöglich, denselben Weg zu nehmen, den man gekommen war. Absperrbänder und auf dem Boden aufgeklebte Pfeile organisierten den Weg, das System war ausgeklügelt und funktionierte ausgezeichnet. Kommende und Gehende hatten keine Chance sich zu vermischen. Obwohl ich bloß den Markierungen folgen brauchte, und klar war, dass der Weg jetzt nicht über die Treppe, sondern über die Rolltreppe zurück nach unten führte, hatte ich die Orientierung verloren. Ich fühlte mich gefangen wie in einem Labyrinth. Kurz überlegte ich, doch noch schnell ein Ticket zu kaufen und die zwei Stunden Wartezeit hier im Kino totzuschlagen. Aber ich hatte ja meinen Platz in der Schlange aufgegeben. Und einfach unter das Absperrband zu tauchen und mich neu einzureihen, war schwierig, ich hätte gegen die Pfeilrichtung gehen müssen, und die Ordner sahen mich bereits alarmiert an. Also blökte ich määäh! bäääh! und nochmal määäh! und trottete durch die Eingrenzung der Absperrbänder Richtung Rolltreppe.
Zuhause kochte ich einen Kaffee, zog die gemütliche Jogginghose an und setzte mich an meinen Platz am Fenster. Auf dem Tisch lag ein Zettel: Bin bei Xenia. Hab dich lieb. Lou.
Ich nippte am Kaffee. Unten liefen ein paar versprengte Vögel durch die Dunkelheit. Plötzlich kam mir alles so sinnlos vor.
Gegen halb acht zog ich einen Rock und meine hohen Stiefel an und radelte zurück zum Kino.

Foggy brain …

Dieses Jahr habe ich ungewöhnlich viele Neujahrsgrüße verschickt. Ich fand, die düstere Lage der Welt erfordere es, so vielen Freunden und Bekannten wie nur möglich Glück und Zuversicht für das neue Jahr zu wünschen. Ich bekam ungewöhnlich wenige Antworten. Kein: Danke, das wünsche ich dir auch! Oder: Herzlichen Dank für Ihre Wünsche! und so weiter und so fort. Ausgenommen natürlich die engsten Freunde. Um genauer zu sein: Die allerallerengsten Freunde. Eine Handvoll Menschen also. Selbst die WhatsApp Gruppen meiner Sprachkurse, die normalerweise unter einer Fülle von Emojis, Gifs, guten Wünschen, Photos und Videosequenzen heißlaufen, selbst da: Schweigen. Ich habe beschlossen, die Angelegenheit nicht persönlich zu nehmen, und frage mich stattdessen: Was ist los? Kein Lust zu nix mehr? Schnauze voll? Pudding im Kopf? Lähmung? Überdruss? Rückzug unter die Bettdecke? Auch ich hatte mich darauf gefreut, endlich die Sprachbücher in meine neue Tasche, also diese safranfarbene Tasche, die ich vor zwei Jahren in Paris gekauft habe und seither nicht benutzen konnte, meine Sprachbücher in eben diese Tasche zu packen, einen Rock (!) und Stiefel (!) anzuziehen und zur Arbeit zu gehen. Stattdessen sitze ich wieder in Jogginghose und Wollsocken an meinem Platz am Fenster. Die neue Tasche steht in der Ecke. Das Murmeltier grüßt. Außerdem hatten Lou und ich über Neujahr eigentlich meine Schwester in Paris besuchen wollen. Aber bevor wir überhaupt in die Gelegenheit kommen konnten, uns in einem der krachvollen Züge der Gefahr auszusetzen, uns möglicherweise bei einer nachlässig getragenen Maske anzustecken, lag ich schon mit irgendeiner Halsschmerzvariante im Bett. Dabei hatte ich mich dagegen immun gewähnt. Schließlich habe ich das schwarz auf gelb. Das war gemein. Obwohl ich Lou sagte, sie könne sich jetzt nicht anstecken, da sie doch grade krank gewesen sei, türmte sie panisch zu ihrer Freundin Xenia. Und ich googelte die Symptome. Ich stieß auf den Begriff Brain Fog. Ein tolles Wort. Es beschrieb nicht nur meine elende Verfassung, diesen Pudding im Kopf. Sondern den Zustand der Welt. Heute morgen fiel es mir wieder ein. Es war fünf vor zehn und ich hatte mich gerade mit einer Kanne Tee an meinem Platz am Fenster eingerichtet, um das ZOOM Meeting für den A2 Kurs zu eröffnen, überflog noch schnell meine e-mails. Eine Antwort von Tante Eugenia aus Amerika auf meine Neujahrswünsche, ich hatte ihr ein paar Photos von Lou und mir geschickt. Wo sind all die Jahre geblieben, schrieb sie zu Tränen gerührt. Und: Ach, wann werden wir uns wiederzusehen? Wann können wir endlich wieder ohne Angst leben? Das war der Moment von brain fog, foggy brain, dem nebligen Kopf. Die Angst macht alle kirre. Die Unsicherheit. Wir denken nicht mehr klar. Es ist, als würden wir in einem riesigen leeren Raum treiben. Ohne Kopf. Ohne Gestern. Ohne Morgen. 

Nach dem Unterricht musste ich zur Post, auf dem Rückweg trank ich einen schnellen Kaffee. Draußen und im Stehen. Hinter mir nieste ein Mann. Augenblicklich zuckten alle an den Tischen stehenden Kaffeegenießenden zusammen, warfen dem Mann scharfe Blicke zu.„Wir sind alle verrückt geworden“, kommentierte das die Frau, die mir gegenüber am Tisch stand. „Angst vor Krankheit habe ich keine, aber die Leute machen mir Angst. Ihre zunehmende Aggressivität ist kaum noch auszuhalten. Die Menschen gucken sich nicht mehr an, lächeln nicht mehr. Sie sind brutal und boshaft geworden. Eben komme ich vom Friedhof. Da wurde ein 39 jähriger Mann beerdigt. Wieso nutzen wir unsere Zeit nicht? Sind freundlich zueinander, lachen. Essen gut. Und teilen das Essen miteinander.“ Verzagt sah sie mich an, lächelte verzweifelt. Wischte sich mit dem Handrücken einen Kekskrümel von den hellrot bemalten Lippen. Eine seltsame Geste, als würde sie weinen. Dann nahm sie ihr Handtaschenetui vom Tisch, sagte, “Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag“, und ging. Ich nippte an meinem inzwischen kalten Kaffee, blickte auf die nebelgraue Straße. Foggy brain.

Suppentag …

Seit bald zwei Jahren sitze ich Zuhause. Am Esstisch. Der steht direkt am Fenster. Ich sitze also seit bald zwei Jahren Zuhause am Esstisch am Fenster und unterrichte. Im Winter trinke ich heißen Tee und habe eine kuschelige Jogginghose und gestrickte Strümpfe an, man sieht mich ja bloß bis zur Tischkante, im Sommer erfrische ich mich mit kühlem Zitronenwasser, trage weite, luftig aufgeknöpfte Hemden, die bis höchstens zwei Handbreit unter die Tischkante reichen und bin natürlich barfuß. Jetzt ist Winter und bald Weihnachten und die Sprachschule hat zu. Ich kann also meinen Platz am Esstisch am Fenster verlassen und in die Stadt gehen.
Das habe ich heute Morgen getan. Lou musste erst zur dritten Stunde und schlief noch, mich zog es nach draußen.
Die Dächer waren zuckerweiß gefroren, der Himmel blau.
Die Passanten hasteten in angespannter Stimmung durch die Straßen, kauften Gebäck und Wein, als wäre heute der letzte Tag der Menschheit. Aber mein Herz war leicht.
Hartnäckig ignorierte ich alle Aggressionen dieser Stadt und reihte mich sanft wie Marias Esel in endlose Warteschlangen.
Ich machte Weihnachtseinkäufe. Das Natürlichste der Welt.
Freundlich passierte ich jede Kontrolle. Kramte für Briefumschläge und Schneeflockengeschenkpapier mein Smartphone und Identität aus der Tasche, hielt es den Kontrollierenden unter die Nase. Wies mich für ein Bund Tannenzweige aus. Für ein angesagtes Parfüm für Lou, das ich edel verpacken ließ, dann erneut für das Schneeflockenpapier, ich hatte es im Papiergeschäft vergessen und nochmal zurück gemusst. Hielt ergeben Code und Ausweis für eine Tüte Teelichter und für mit singenden Engeln bedruckte Servietten bereit.
Dann war ich leer.
Als ich aus dem viergeschossigen Weihnachtskaufhaus kam und mich durch eine krakeelende Menschenmasse boxen musste, stellte sich plötzlich Überdruss ein. Von einer Sekunde auf die andere. Ich wurde geradezu in die Straße gedrückt, heftig, gewalttätig, als hätte mich eine hämische Krankheit angesprungen und hielte mich im Schwitzkasten.
Die Zuckerstadt war blassgefroren.
Die am Himmel klebende Wintersonne stumpf wie Wachs.
Ich sehnte mich nach meinem Platz am Fenster. Dem vertrauten Blick nach unten auf die Straße, die blattlosen Akazien und den steif gefrorenen Grünstreifen. Einer Schale süßem Tee, Wollsocken und Ruhe. Das passiert also, wenn man monatelang im Zimmer hockt. Man kriegt einen Knall. Das darfst du auf keinen Fall kultivieren, dachte ich, dagegen musst du angehen. Ich stellte mich neben ein paar hellblaue und weiße Vögel an die Bushaltestelle und überlegte, wie ich wieder in die Bahn komme. Ließ drei Busse halten und abfahren, ich gehe am liebsten zu Fuß, fahre so gut wie nie mit dem Bus, aber an einer Haltestelle kann man ungestört rumstehen und nachdenken.
Dann wußte ich es. Suppe. Eine Suppe ist die beste Medizin. Eine Suppe vertreibt düstere Gedanken, hilft bei Erkältungen, wirkt gegen Verzagtheit und Mutlosigkeit, macht einen schweren Kopf wieder klar, schenkt Energie, rettet bei Liebeskummer. Vor einigen Jahren hatte ich sogar mal überlegt, ein Suppenbistro aufzumachen. Aber dann bin ich doch Lehrerin geblieben, das liegt mir mehr. Eigentlich kann ich mir keinen schöneren Beruf vorstellen.
Bevor ein weiterer Bus seine Türen öffnete, um einen Schwall Vögel rauszulassen, machte ich mich auf den Weg zum Supermarkt.
Als wir im C1 Kurs über Kästners Märchen vom Glück diskutiert hatten, über Seneca und so weiter, hatte Igor gesagt, dass man Glück trainieren kann. Dafür müsse man jeden Abend drei Glücksmomente des verstrichenen Tages sowie drei Augenblicke der Freude in ein Heft listen. Mindestens 60 Tage lang. Schon nach einigen Wochen würde man sich viel fröhlicher fühlen. Ich habe das hin und wieder versucht, bin aber jedesmal steckengeblieben, weil ich es schwierig finde, diese Begriffe zu kategorisieren. Was gehört in die Spalte Freude? Was ist Glück? Ist eine Trennung der Bedeutungen überhaupt möglich, oder notwendig, gibt es Glück ohne Freude, Freude ohne Glück, wenn ja, wie wirkt sich das aus, und was ist eigentlich mit Zufriedenheit, und so weiter und so fort.
Suppe jedenfalls ist ein klarer Fall von Glück.
Eilig warf ich die Zutaten in den Einkaufskorb und stellte mich in die Schlange an der Kasse.
Als ich Nachhause kam, lag Lou noch im Bett.
Entschieden, wie nur 15 jährige sein können, sagte sie: „Ich gehe heute nicht raus. Heute haben wir nur zwei Stunden Englisch, dafür lohnt sich der Weg nicht. 22, 5 Minuten hin, 22, 5 Minuten zurück, macht 45 zusätzlich zum Unterricht verlorene Minuten, die ich echt besser verbringen kann.“
Mir graute schon vor der e-mail des Englischlehrers.
Dann kochte ich eine herzhafte Gulaschsuppe mit Wachholderbeeren und duftender Orangenschale.

Klimakatastrophe …

Einen Kaffee trinken, rausgucken. An nichts denken. Radio ABC säuselt j’ai t’aime, der Mundschutz baumelt an meinem Handgelenk, am Fenster stehen blutrote Weihnachtssterne.
Earth Species Project. Könnten wir die Welt retten, wenn wir in der Lage wären, mit Tieren zu sprechen?
Draußen treiben die Menschen wie Eisschollen durch die Dunkelheit. Die Tram fährt vorüber, ein fahl erleuchtetes Aquarium, Feierabend und trotzdem halbleer, Gesichter unsichtbar, erstarrt hinter Mundstofffetzen, Körper gebeugt, Herz ermüdet.
„Ich bin seit Monaten allein. Niemand würde mitkriegen, dass ich tot bin. Alles Eisblöcke. Höchstens ein, zwei Leute aus der Firma, und das auch nur, weil ich die Finanzen nicht rechtzeitig abgeliefert habe. Wir sind zu Eisblöcken geworden. Ich kann nicht mehr! Ich bin ein Mensch! “ Martinas verzweifeltes Gesicht auf dem Bildschirm, ihre Stimme über Kopfhörer.
Wie ein Film.
„Bitte, kein Dativ, ich will reden!“, ihre zuckenden Mundwinkel.
Zuhören statt unterrichten. Immer häufiger. Komisches, Verrücktes, Trauriges hören. Auf Bildschirmkacheln starren. Stimmen im Körper, Akzente aus aller Welt.
Film? Realität?
Aus der Tram lösen sich Eisschollen, versickern wie Fragmente im Dunkeln.
Instabiles Internet, Die Sprache der Delphine. Igor:„Inwieweit würde unsere Gesellschaft erschüttert werden, wenn wir die Sprache der Tiere verstehen könnten?“ Alba: „Wollen die Menschen das überhaupt? Dann müßten sie ja aufhören, Fleisch zu essen.“
Syntaxfehler notieren, falsch benutzte Präpositionen.
Der Mensch! Die Krönung der Schöpfung! Verschickt Fleischbrocken und Morddrohungen an Andersdenkende, schreit Ich! Ich! Ich! und nennt es Freiheit!
„Die da draußen schlagen sich die Köpfe ein“, sagte Igor, „ich gehe nicht mehr raus.“
Ich! Ich! Ich! Die Verben lauten: beleidigen, beleidigt, hat beleidigt, erschießen, erschießt, hat erschossen, drohen, droht, hat gedroht, verletzen, verletzt, hat verletzt, missachten, missachtet, hat missachtet.
Die Anständigen verkriechen sich, verkriecht sich, hat sich verkrochen, weinen, weint, hat geweint, verzweifeln, verzweifelt, ist verzweifelt.
Werden bitter. Bitter werden. Bitter ist nicht nur eine Geschmacksrichtung sondern auch ein umgangssprachlicher Ausdruck für hart.
Ich bestelle eine Süßigkeit, obwohl ich nichts Süßes mag, Radio ABC, Small Song, ich trinke meinen Kaffee, sehe auf die Straße.
In der Arktis schmelzen die Eisblöcke. Hier nicht.
Die Tankstelle gegenüber ist in weißes Licht getaucht. Der Friedhof geöffnet.

Hamster …

„Eigentlich möchte ich nicht mehr leben. Ich möchte nicht alt werden. Das Leben ist nicht schön. Nichts als Kampf. Immer kämpfen, jeden Tag. Das ist nicht schön. Guck sie dir an, die Welt da draußen. Kaputt und krank. Ich sehe schon längst keine Nachrichten mehr. Nach allen Abzügen habe ich kaum noch was in der Hand. Und all die Monate Kurzarbeit. Wie soll ich mir da eine eigene Wohnung suchen? Ich werde mit meiner Mutter leben bis sie stirbt. Die Abende mit ihr verbringen, sie bemitleiden, mit ihr fernsehen, über ihre Krankheiten sprechen.“
Das alles hatte Pamela hinter ihrer Maske ausgestoßen. Wütend und übermüdet, war sich ständig mit ihren langen, silberblau glitzernden Fingernägeln durchs Haar gefahren. Vielleicht hatte ihre Wut auch was mit den Wanzen zu tun gehabt.
Das war im Frühling gewesen
Pamela ist meine Friseurin. Heute Mittag hatte ich einen Termin bei ihr. Ich hatte sie ein paar Monate nicht gesehen, weil ich nicht so häufig zum Haareschneiden gehe, und als ich mich nach ihrer Mutter erkundigte, drehte sie sich weg.
Draußen war es trübselig grau. Im Fenster zuckte die Lichterkette, die Pamelas Chefin immer genau eine Woche vor dem ersten Advent dort anbringt. Pamela setzte die Schere an.
„Auf einmal ging es ihr schlecht, mitten beim Fernsehen. Dabei hatte sie sich so gut von dem Wanzenbefall erholt. Es ging ihr plötzlich aus heiterem Himmel schlecht“, berichtete Pamela.
An die Geschichte mit den Bettwanzen kann ich mich gut erinnern. Kein Mensch wußte, wo die herkamen. Mindestens dreimal pro Nacht hatte Pamela den wund zerbissenen Körper ihrer Mutter mit Puder bestäuben müssen, gegen das quälende Jucken.
„Sie wollte vom Sofa aufstehen, um auf Toilette zu gehen, ganz normal, aber auf einmal hatte sie irgendwas mit den Beinen, konnte kaum laufen. Richtig aufgedunsen waren die plötzlich“, sagte Pamela während sie meine Haare prüfend zwischen ihre weihnachtsgold lackierten Finger nahm,„quaddelig, als wäre heißes Wasser drin. Und ein dickes krebsrotes Gesicht.“
Das war ihr komisch vorgekommen. Deshalb hatte sie ihre Mutter ins Auto gepackt und war mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Das heißt, sie musste ihre Mutter unten abgeben und draußen vor der Glastür bleiben. Als sie am nächsten Morgen im Krankenhaus anrief und erfuhr, dass es ihrer Mutter schlechter ging, wollte sie im Schutzanzug zu ihrer Mutter rein. Natürlich wurde sie schon vor der Glastür abgewiesen. Die Mutter lag jetzt auf der Intensivstation. Wir halten Sie auf dem Laufenden. Am nächsten Abend war die Mutter tot.
„Ich durfte sie nicht sehen. Nichtmal dann hat man mich zu ihr gelassen.“
Pamela schnippte stumm. Ich betrachtete die zuckende Lichterkette. Am Fenster lief ein Junge mit roter Weihnachtsmütze vorbei. Ich dachte an meine alte Tante. Ich hatte nicht mehr mit ihr sprechen können, weil niemand auf der Station Zeit gehabt hatte, das Telefon an ihr Bett zu bringen, ihr den Hörer ans Ohr zu halten. Als es noch ging. All diese Abschiede, die keine gewesen sind. Was tut das mit uns?
„Letzte Woche wollte ich einen Hamster kaufen“, riss Pamela mich aus meinen Gedanken, „dass ich was im Arm habe. Ich würde ihn nachts in mein Zimmer stellen, damit ich mit ihm sprechen kann. Ich hatte abends bei DISCOUNT eingekauft, da gibt es hinten am Parkplatz eine Zoohandlung. Plötzlich kam mir der Gedanke mit dem Hamster. Komischerweise waren die aus. Das passiert jetzt häufiger, kommen Sie die Woche drauf wieder, hat die Verkäuferin gesagt. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es richtig ist. Ob ein Hamster das richtige Tier ist. Ich weiß das alles nicht. Eine Schildkröte würde mir auch gefallen. Das sind schöne Tiere. Manchmal ziehen sie den Kopf ein, aber ich finde das nicht schlimm. Man kann sie hochheben. Trotzdem ist ein Hamster besser. Es würde mich auch nicht stören, wenn er die ganze Nacht im Rad läuft. Ich habe dann Gesellschaft. Da ist dann jemand, neben mir. Jemand Lebendiges. “
Sie ließ die Schere sinken.
Im Spiegel sah ich die Lichterkette, sie schimmerte wie Pamelas Fingernägel. Vielleicht war das extra so abgestimmt.
Verstört stand Pamela da und sah mich an. Ein verwundeter Vogel mit einem weißen Riesenschnabel und goldenen Krallen.
Obwohl der knistrige Plastikumhang an mir klebte und meine Haare längst nicht trocken waren, sprang ich vom Frisierstuhl und nahm Pamela in den Arm. Es ging nicht anders.

Streicheln verboten ….

Ich wollte sofort loslegen.
Und dann schmeckte Lou auf einmal nichts mehr. Lag mit steingrau verschatteten Augen im Bett und hustete. Fahl wie eine Wachspuppe. Hatte bleierne Kopfschmerzen, Blasen auf dem Rücken. Ihr Gesicht erinnerte zunehmend an die Farbe des abblätternden Putzes, unten an der Hauswand. Panik erfasste mich.
Ich rief die Ärztin an.
Die – Frau- Doktor – meldet – sich- nach Ende – der – Sprechstunde – bei – Ihnen – jetzt – geht – es – nicht.
Ich versuchte es mit dem ärztlichen Bereitschaftsdienst.
Warteschleife.
Mein Herz pochte.
Ich stand am Fenster und sah runter auf den nicht mehr grünen Grünstreifen, Ihre verbleibende Wartezeit beträgt voraussichtlich noch 17 Minuten.
Im Rhythmus der Schleifenmusik schwappten sanfte Meereswellen über den braungetrampelten Rasenstreifen. Die Autos verwandelten sich in tanzende Fischerboote.
Ich wurde schlagartig zurückgeholt.
„Wir können niemanden schicken. Wieso gehen Sie nicht zum Arzt?“
„Meine Tochter hat hohes Fieber und kann nicht aufstehen.“
„Dann packen Sie sie ins Auto und kommen zu uns ins Testcenter.“
„Wir haben kein Auto.“
„Ach so.“
Nach einigem hin und her, und wieso es nicht angebracht ist, mit dem Taxi oder öffentlich unterwegs zu sein, hieß es:
„Aber ich kann veranlassen, dass jemand nach Ihrer Tochter sieht.“
Daten wurden aufgenommen. Freundliche Worte getauscht. Aufgelegt.
Dann passierte erstmal nichts.
Lou schlief inzwischen. Schlafen ist gesund.
Ich war beruhigt und musste arbeiten. Schickte meinen A2 Kurs in 2er Gruppen in Breakout-Rooms und ließ sie einen Restaurantbesuch durchspielen. Kochte währenddessen Hühnersuppe, goß Salbeitee auf. Zahlen Sie zusammen oder getrennt? Legte kühlende Waschlappen auf Lous Stirn, befüllte die Wärmflasche. Danke, stimmt so.
Im B2 Kurs erzählte D., dass er jetzt nachts raus aus der Stadt fährt, in den Wald. Um niemandem zu begegnen. Und um Sport zu treiben.
Am frühen Abend rief die Ärztin an.
„Wieso sind Sie nicht in die Praxis gekommen? Sie wohnen doch gleich um die Ecke.“
„Meine Tochter konnte nicht aufstehen.“
„Dann packen Sie sie gleich morgen früh ins Auto und kommen her.“„Wir haben kein Auto.“
„Ach so.“Pause.
„Kommen Sie zu Fuß, sobald das Fieber es zuläßt. Dann können wir den Test machen.“
Kurz darauf meldete sich jemand vom ärztlichen Bereitschaftsdienst, erschöpfte Stimme. In der Ferne jaulte ein Martinshorn durch die Dunkelheit.
„Meiner Tochter geht es besser, Sie brauchen nicht zu kommen“, sagte ich ermunternd. „Die Ärztin hat eben angerufen.“
Erleichterung am anderen Ende der Leitung, eine Zigarette wurde angezündet. Der ausgestoßene Rauch vermischte sich befreit mit dem Straßenlärm.
Am nächsten Morgen reihten wir uns in die Praxisschlange. Es regnete in feinen Strichen und Lou fror, weil sie unter ihrer Jacke nur den petrolfarbenen Pyjama trug.
Ich machte den Test gleich mit.
Nach sechs Tagen kam das erwartete Ergebnis.
Weiterhin Isolation für Lou. Maske und Desinfektionsmittel für mich.
Wir lebten auf einer Peststation.
Ich durfte mein eigenes Kind nicht berühren.
Ich durfte mein Kind nicht in den Arm nehmen. Stellte nur Wasser und Essen ins Zimmer. Wie einer Katze.
Der Wahnsinn des neuen Zeitalters ist leise.

Wie es dazu kam… 

Heute morgen zerrte ich den Staubsauger durch den Flur. Die Düse kratzte über den Holzboden, schlürfte den Staub ein. Ich dachte an meine mutterseelenallein im Krankenhaus gestorbene alte Tante, den vergifteten Dackel aus dem ersten Stock, der dran glauben mußte, weil der Typ aus dem Erdgeschoß im Homeoffice die Nerven verloren hatte. An Bea aus dem Abendkurs, die genau einmal die Woche das Haus verläßt, um in den Supermarkt ums Eck zu gehen, und sagt, dass sie neuerdings morgens weinen muss, und irgendwie Atemstörungen hat, sobald sie in einem ZOOM-Meeting sitzt. Dann dachte ich wieder an meine Tante und das Krankenhaus. Ein explosionsartiger Knall riss mich aus meinen Gedanken. Das Staubsaugerkabel hatte sich unter dem an der Wand lehnenden Spiegel verkeilt, ihn krachend zu Boden gerissen. Ich stellte den Sauger ab. Eine geradezu heilige Stille trat ein. Vor mir lag der zersplitterte Spiegel. Glitzerte wie eine vereiste Pfütze im Sonnenlicht und zeigte mir kopfüber die Welt. All die blinden Scherben der vergangenen Monate sprangen mich an. Buhlten entfesselt um meine Aufmerksamkeit. Lächelten mit zusammengekniffenen Zähnen, fluchten. Weinten verzagt. Waren durchgeknallt, sprachlos, mutig. Komisch und verloren. Jeder Splitter schrie, wollte gesehen, gehört werden. Mir wurde fast schwindelig. Ich ging in die Küche, öffnete das Fenster. Dünne Herbstluft. Unten auf der Straße die weißen Vögel. Akazien auf dem platt gemähten Grünstreifen. Autos, Stoßstange an Stoßstange. Ich glaube, alles, so richtig alles, ist in 1000 Stücke gekracht und muss jetzt neu zusammengesetzt werden. Das ist erschreckend. Und zugleich befreiend. Geradezu sensationell. Dieser gewaltige Umbruch, der durch unsere Herzen, Köpfe und Kontinente geht. Der uns vor Schreck verharren, oder in Panik ausbrechen läßt. Uns auf die Suche schickt, nach neuen Lebensformen, nach Sinn. Diese erschütternde Erneuerung, die uns ungefragt in Atem hält. Eine erdumspannende Geschichte, Ausgang ungewiss. Und all die damit einhergehenden Scherben, namenlos. Ich dachte, ich muss das aufschreiben, irgendwie. Diesen ganzen Wahnsinn zu Papier bringen. Unten auf der Straße die weißen Vögel. Stumm und unerkannt. Akazien. Autos. Alles wie gehabt.  Niemand hat es verdient, ein blinder Fleck zu sein, schoß es mir durch den Kopf. 

Dann habe ich diesen Blog eröffnet.