Neuerdings werde ich gefragt: Was bedeutet Einberufung? Mobilmachung? Rüstungsindustrie? Verteidigungsfall? Was heisst hero auf Deutsch? Weapons? Was ist ein Stellungskrieg? Ostflanke? Was bedeutet Eingreiftruppe? Aufrüstung?
Ich erkläre, erläutere. So gut ich kann. Die neuen Vokabeln werden notiert. Die neuen Vokabeln sind auch für mich neu. Sie benutzen zu müssen wie eine Alltäglichkeit. Das ist neu. Das ist unfassbar.
Mir widerstrebt es, eine Spinne mit der Fliegenklatsche zu erschlagen, stattdessen bugsiere ich sie behutsam auf ein Blatt Papier, öffne das Fenster und schüttle das Insekt in die Freiheit.
Jetzt vermittle ich im Unterricht Kriegsjargon. Das ist unfassbar.
Simas aus dem Abschlusskurs sagt: „In Litauen gibt es drei Gruppen von Menschen. Manche haben Angst und sind schon weg. Andere bereiten sich darauf vor, das Land zu verlassen. Während die Leute aus der dritten Gruppe nicht an eine russische Invasion glauben und unverändert ihr Leben leben. Mein Bruder wohnt nur zwanzig Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt, er hat sein Auto schon gepackt. Für sich, seine Frau und seine zweijährige Tochter. Meine Eltern sagen, sie waren nach dem Zerfall der Sowjetunion friedlich. Und sie werden es wieder sein. Gewalt bringt nichts als Gewalt.“
Die anderen nicken zustimmend in den Zoom-Kacheln. Sie kommen aus Peru, den Philippinen, aus Russland, Litauen, Spanien und Kirgistan.
Ich freue mich, dass sie nicken.
Sie fragen nach Texten zur Ukraine. Sie wollen über den Krieg sprechen. Gleichzeitig wollen sie nicht über den Krieg sprechen. Sie sehen mich hilflos an.
„Gestern dachte ich, wozu weiterschreiben? Wozu eine Doktorarbeit? Vielleicht gibt es uns bald nicht mehr“, sagt Rafael. Er lacht fassungslos.
„Habt ihr gesehen, wie die Aktien der Rüstungskonzerne in die Höhe schießen?“, fragt Simas.
„Ich habe Angst“, sagt Manuela.
In einer renommierten Zeitung lese ich die fett gedruckte Überschrift: ‚Waffen sind besser als nur Worte‘
Ich kann die Gewaltspirale nicht zurückdrehen.
Aber ich kann Texte und Zeitungsartikel besorgen, und den Krieg aus verschiedensten Blickwinkeln beleuchten. Wir können diskutieren. Wir können über Desertation als Menschenrecht sprechen.
Ich kann ein Rezept für Kartoffelsuppe mitbringen. Wir können uns austauschen. Wir können über Zitronenkuchen, eingelegte Gurken, über marinierten Fisch und Kokoshuhn sprechen.
Meine alte Nachbarin fängt mich jeden Morgen unten im Hausflur ab.
„Gibt es Krieg? Was denken Sie, Frau Mandel?“
Dann sprudelt es nur so aus ihr raus. Sie spricht von jüdischen Klassenkameradinnen, die auf einem Lastwagen abtransportiert wurden, von einer brennenden Synagoge, von Fliegeralarm, davon, wie sie für ihren kleinen Bruder Milch besorgen sollte und sich in einen Straßengraben warf, von der Katze, die es mal zu Mittag gab, weil es sonst nichts gab, von verdunkelten Räumen. Sie weint. Sie ist aufgeregt.
Ich versuche, sie zu beruhigen. Jeden Morgen, wenn ich vom Joggen komme, stürzen dieselben Bilder über uns ein.
Soll ich der alten Frau sagen, dass auch ich nachts nicht schlafen kann? Weil ich mit klopfendem Herzen an diese beschissene Welt denke, in der meine Tochter aufwächst?
Morgen habe ich wieder den Abschlusskurs.
„Können wir das nächste Mal wieder über Essen sprechen?“, wurde ich nach der letzten Stunde gefragt.
„Ich möchte über Liebe sprechen“, sagte Olga.
Alle sahen sie an. Nickten.
Sahen mich an.
„Klar, sehr gern“, sagte ich, „ich guck mal, was ich finde.“
Ich schlage die Liebesgedichte von Brecht auf:
Der, den ich liebe, hat mir gesagt, daß er mich braucht. Darum gebe ich auf mich acht, sehe auf meinen Weg und fürchte von jedem Regentropfen, daß er mich erschlagen könnte.
Ich kann den Kriegstaumel nicht stoppen.
Diesen Wahnsinn.
Aber ich kann Apfelkerne in einen Blumentopf stecken, fest in die Erde, und ihn auf die Fensterbank in der Küche stellen. Ins Frühlingslicht.
Liebe Lala
Was für ein großartiger Text. Wir sollten alle mehr Äpfel essen und den Herausgebern von manchen Zeitungen sagen das wir sie nur noch zum anheizen des Ofens taugen.
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