Nachdem ich 10 Minuten im leeren Raum gewartet hatte, allein, an meinem Platz am Fenster, klingelte mein Handy. Cara war dran. Flattrig, in sich überstürzendem Englisch legte sie los: „Es tut mir so leid sorry Verzeihung wirklich aber ich habe kein Internet wir können heute keinen Unterricht machen es tut mir leid wirklich ich muss mich wirklich entschuldigen ich versuche wieder und wieder mit Vodafone zu sprechen seit zwei Tagen ich muss ins Büro zum Glück haben wir da eine Teststation ich kann ja nicht Zuhause arbeiten ohne Netz ich habe einen Kollegen gebeten für mich bei der Telefongesellschaft anzurufen so oft habe ich schon selbst angerufen und erklärt was los ist aber immer sagen sie daran liegt es nicht es ist zum verrückt werden ich kann nicht ausdrücken was ich will sie verstehen mich nicht weil ich kein richtiges Deutsch spreche und bei Englisch stellen sie sich taub es hat alles keinen Sinn ich gebe auf ich werde meinen Job kündigen die Wohnung kündigen und zurück nach Italien gehen es hat keinen Sinn ich kann nicht mehr.“
Pause.
Ein mit Mühe unterdrückter Schluchzer schwappte durchs Telefon.
Ich blickte in den gähnenden Zoom-Warteraum, in dem ich allein an meinem Platz am Fenster saß, ein Handy am Ohr. Vor mir das geöffnete Sprachbuch, Seite 33, ein Zeitungsartikel über Currywurst.
Cara ist erfolgreiche Finanzanalystin sowie Personalchefin eines namhaften Tomatenmarkkonzerns. Sie hat auf verschiedenen Kontinenten gelebt und gearbeitet, Pferde vor Apotheken kotzen sehen und zig Krisen gemeistert. Cara ist selbstbewußte Ende fünfzig, lacht ein raumfüllendes Lachen und hat eine unerschütterliche Lebensfreude.
Also, hatte eine unerschütterliche Lebensfreude.
Nach zwei Jahren home, sweet home, ist davon nicht mehr viel übrig. Aus dem schillernden Pfau ist ein gerupftes Huhn geworden.
Das begann völlig unspektakulär.
Cara fing an, sich für Verordnungen zu interessieren. Das passierte fein, fast unmerklich. Schließlich interessiert man sich. Aber mit der Zeit wurde aus dem harmlosen Interesse sowas wie Besessenheit. Eine Manie.
Cara studierte jetzt eifrig jede neue Verhaltensvorschrift, arbeitete sich kleinkariert und mit Hilfe verschiedenster Übersetzungsprogramme durch Zeitungsartikel, studierte rastlos die Meldungen des Auswärtigen Amtes, verfolgte LiveBlogs und kämpfte sich aufs Genaueste durch jeglichen Hinweis der Bundesregierung.
Sie befolgte jede Regel. Unbeugsam und gewissenhaft.
Das Haus verließ sie nur noch für ihre frühmorgendlichen Spaziergänge durch den Park, früh um fünf, wenn die Stadt sicher weggeschlossen schlief, und den wöchentlichen Deutschunterricht nutzte sie, um auf Englisch über Inzidenzen und veränderte Bestimmungen zu sprechen.
Mit dem Lernen ging es also nur nur noch schleppend voran. Die Stunden waren zäh wie Klebstoff. Und Cara verließ das wöchentliche Meeting jedesmal sichtbar erfrischt. Dankbar und gestärkt.
Als es endlich einen Impfstoff gab, stellte sie sich vorbildlich hinten an, wartete geduldig auf einen Termin, diszipliniert wie eine Soldatin, bis alle unter Dreißigjährigen geimpft waren. Und mir der Geduldsfaden riss. Ich schlug vor, dass sie jetzt umgehend in ihre Hausarztpraxis geht. Rief sogar für sie da an.
Schon zum nächsten Unterricht reckte Cara mir ihren entblößten Oberarm in die Kamera, zeigte triumphierend auf ein kleines, stolzes Pflaster.
Inzwischen hat sie die dritte Impfung hinter sich.
Trotzdem ist die Welt kein freundlicherer Ort geworden.
Cara schüttet mir jeden Freitag ihr Herz aus. Da kommt dann alles zur Sprache, was sich während ihrer Woche so aufgestaut hat. Das ist mittlerweile festes Ritual.
Aber diesmal schien sie nur noch an einem seidenen Faden zu hängen.
„Cara?“
Das unterdrückte Schluchzen stieg unaufhaltsam höher, bahnte sich seinen Weg zu meinem Platz am Fenster und krachte wie eine schwere Flutwelle in mein Ohr.
„Ich kann nicht mehr seit zwei Jahren sitze ich Zuhause ich bin ein Mensch ich brauche andere Menschen ich brauche Berührungen ich bin ein Mensch ich brauche Wärme ich habe mich zwei Jahre an alles gehalten jede Regel habe ich befolgt jede einzelne Regel ich habe mich immer vorbildlich verhalten aber jetzt will ich nicht mehr ich bin ein Mensch ich brauche andere Menschen ich habe alles satt ich kann kein Deutsch weil ich seit 2 Jahren allein Zuhause sitze ich gehe nicht mal kurz ins Restaurant sondern bestelle jeden Tag am Telefon ich ich war immer optimistisch die ganze Zeit aber jetzt nicht mehr ich ertrage das alles nicht mehr das Leben ist sinnlos ich will nicht mehr ich gebe auf ich will nicht mehr leben.“
Pause.
Zwei Tage ohne Internet reichen also inzwischen, um einen Totalzusammenbruch auszulösen.
Cara heulte, verloren wie ein Kind im dunklen Zimmer.
Ich hörte zu. Versuchte, der Angelegenheit irgendwas Positives abzuringen. Schickte aufmunternde Worten durchs Telefon. Nach 45 Minuten stieß Cara einen hellen Schnipsel ihres raumfüllenden Lachens aus. Legte dankbar und gestärkt auf.
Ich starrte noch ein bisschen in den leeren Warteraum, in dem ich ganz allein an meinem Platz am Fenster zu sehen war. Dann beendete ich das Meeting.