Suppentag …

Seit bald zwei Jahren sitze ich Zuhause. Am Esstisch. Der steht direkt am Fenster. Ich sitze also seit bald zwei Jahren Zuhause am Esstisch am Fenster und unterrichte. Im Winter trinke ich heißen Tee und habe eine kuschelige Jogginghose und gestrickte Strümpfe an, man sieht mich ja bloß bis zur Tischkante, im Sommer erfrische ich mich mit kühlem Zitronenwasser, trage weite, luftig aufgeknöpfte Hemden, die bis höchstens zwei Handbreit unter die Tischkante reichen und bin natürlich barfuß. Jetzt ist Winter und bald Weihnachten und die Sprachschule hat zu. Ich kann also meinen Platz am Esstisch am Fenster verlassen und in die Stadt gehen.
Das habe ich heute Morgen getan. Lou musste erst zur dritten Stunde und schlief noch, mich zog es nach draußen.
Die Dächer waren zuckerweiß gefroren, der Himmel blau.
Die Passanten hasteten in angespannter Stimmung durch die Straßen, kauften Gebäck und Wein, als wäre heute der letzte Tag der Menschheit. Aber mein Herz war leicht.
Hartnäckig ignorierte ich alle Aggressionen dieser Stadt und reihte mich sanft wie Marias Esel in endlose Warteschlangen.
Ich machte Weihnachtseinkäufe. Das Natürlichste der Welt.
Freundlich passierte ich jede Kontrolle. Kramte für Briefumschläge und Schneeflockengeschenkpapier mein Smartphone und Identität aus der Tasche, hielt es den Kontrollierenden unter die Nase. Wies mich für ein Bund Tannenzweige aus. Für ein angesagtes Parfüm für Lou, das ich edel verpacken ließ, dann erneut für das Schneeflockenpapier, ich hatte es im Papiergeschäft vergessen und nochmal zurück gemusst. Hielt ergeben Code und Ausweis für eine Tüte Teelichter und für mit singenden Engeln bedruckte Servietten bereit.
Dann war ich leer.
Als ich aus dem viergeschossigen Weihnachtskaufhaus kam und mich durch eine krakeelende Menschenmasse boxen musste, stellte sich plötzlich Überdruss ein. Von einer Sekunde auf die andere. Ich wurde geradezu in die Straße gedrückt, heftig, gewalttätig, als hätte mich eine hämische Krankheit angesprungen und hielte mich im Schwitzkasten.
Die Zuckerstadt war blassgefroren.
Die am Himmel klebende Wintersonne stumpf wie Wachs.
Ich sehnte mich nach meinem Platz am Fenster. Dem vertrauten Blick nach unten auf die Straße, die blattlosen Akazien und den steif gefrorenen Grünstreifen. Einer Schale süßem Tee, Wollsocken und Ruhe. Das passiert also, wenn man monatelang im Zimmer hockt. Man kriegt einen Knall. Das darfst du auf keinen Fall kultivieren, dachte ich, dagegen musst du angehen. Ich stellte mich neben ein paar hellblaue und weiße Vögel an die Bushaltestelle und überlegte, wie ich wieder in die Bahn komme. Ließ drei Busse halten und abfahren, ich gehe am liebsten zu Fuß, fahre so gut wie nie mit dem Bus, aber an einer Haltestelle kann man ungestört rumstehen und nachdenken.
Dann wußte ich es. Suppe. Eine Suppe ist die beste Medizin. Eine Suppe vertreibt düstere Gedanken, hilft bei Erkältungen, wirkt gegen Verzagtheit und Mutlosigkeit, macht einen schweren Kopf wieder klar, schenkt Energie, rettet bei Liebeskummer. Vor einigen Jahren hatte ich sogar mal überlegt, ein Suppenbistro aufzumachen. Aber dann bin ich doch Lehrerin geblieben, das liegt mir mehr. Eigentlich kann ich mir keinen schöneren Beruf vorstellen.
Bevor ein weiterer Bus seine Türen öffnete, um einen Schwall Vögel rauszulassen, machte ich mich auf den Weg zum Supermarkt.
Als wir im C1 Kurs über Kästners Märchen vom Glück diskutiert hatten, über Seneca und so weiter, hatte Igor gesagt, dass man Glück trainieren kann. Dafür müsse man jeden Abend drei Glücksmomente des verstrichenen Tages sowie drei Augenblicke der Freude in ein Heft listen. Mindestens 60 Tage lang. Schon nach einigen Wochen würde man sich viel fröhlicher fühlen. Ich habe das hin und wieder versucht, bin aber jedesmal steckengeblieben, weil ich es schwierig finde, diese Begriffe zu kategorisieren. Was gehört in die Spalte Freude? Was ist Glück? Ist eine Trennung der Bedeutungen überhaupt möglich, oder notwendig, gibt es Glück ohne Freude, Freude ohne Glück, wenn ja, wie wirkt sich das aus, und was ist eigentlich mit Zufriedenheit, und so weiter und so fort.
Suppe jedenfalls ist ein klarer Fall von Glück.
Eilig warf ich die Zutaten in den Einkaufskorb und stellte mich in die Schlange an der Kasse.
Als ich Nachhause kam, lag Lou noch im Bett.
Entschieden, wie nur 15 jährige sein können, sagte sie: „Ich gehe heute nicht raus. Heute haben wir nur zwei Stunden Englisch, dafür lohnt sich der Weg nicht. 22, 5 Minuten hin, 22, 5 Minuten zurück, macht 45 zusätzlich zum Unterricht verlorene Minuten, die ich echt besser verbringen kann.“
Mir graute schon vor der e-mail des Englischlehrers.
Dann kochte ich eine herzhafte Gulaschsuppe mit Wachholderbeeren und duftender Orangenschale.

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